Tag 41 - Aus Kirchenbau-Interesse in ein Schmuddelkino?

FR, 11.Mai 2007 - Aus Kirchenbau-Interesse in ein Schmuddelkino?


Eskişehir

 

Um 9 geht’s nach kurzen Schlaf aus dem Haus. Nach einigen notwendigen Einkäufen schaue ich mir noch den älteren Teil der Stadt an. Gerade als ich die große Moschee fotografieren will, werde ich wieder auf deutsch angesprochen. Von einem Deutschen! Daniel aus der Nähe von Frankfurt, wird wohl Mitte 40 sein und arbeitet hier seit über 10 Jahren für eine amerikanischen Firma. Er hat Zeit, um mir bei der Suche nach einer gescheiten Kartensammlung der Türkei zu helfen. Praktisch nebenbei erfahre ich noch viel über die Stadt Eskişehir und die Türkei. Ich könnte – hätte ich alles behalten – eine eigene Internetseite über seine vielen Informationen eröffnen.

Hier recht kurz und knapp:
Es gibt seit Jahrzehnten kein Priesterseminar mehr in der Türkei. Nicht nur, dass die Christen mehr und mehr vertrieben wurden. Zudem wurde auch die Ausbildung von Priestern verboten. Ganz zu schweigen vom Rechtsstatus der Kirchen und der Möglichkeit des Besitztums (www.katholische-kirche.de , www.ekiba.de
www.kirche-in-not.de). Minderheiten hätten in der Türkei ohnehin kein Ansehen. Wenn man einer solchen angehört (Christ, Kurde, Araber, Aramäer,…) werde einem grundsätzlich nichts zugetraut. Zudem werde den Christen hier sowieso nicht getraut, da sie sich selbst organisieren und nicht staatlich geleitet werden. Dies sehe im Islam anders aus: Offiziell ist der türkische Staat zwar getrennt von der Religion (Laizismus), tatsächlich aber leite und kontrolliere der Staat den Islam. Auch gibt es die Forderung derr Rückkehr zum Gottesstaat. Dabei sind die Aleviten angeblich das Rückgrat der Demokratie in der Türkei. 

Die Stadt mit knapp einer halben Million Einwohnern hat ein super Flair. Es gibt hier zwei Universitäten mit etwa 70.000 Studenten, eine dritte wird gerade für die Piloten des nahe gelegenen Luftwaffenstützpunktes gebaut. Außerdem die Teil der deutschen Bagdadbahn (von Berlin nach Bagdad), also auch für Bahnfreunde sehr interessant.
 Die Erfolgsgeschichte der Stadt ist durch den Bürgermeister begründet: Der ist nicht auf seinem Stuhl festgeklebt, sondern in Europa rumgereist. So z.B. gleicht keine der Brücken der Stadt einer anderen. Aus jedem Land hat er sich eine “mitgenommen” (s. Sibiu/ Hermannstadt, Europäische Kulturhauptstadt 2007, BM Klaus Johannis, de.wikipedia.org). In den letzten nicht mal 10 Jahren hat er die Stadt beeindruckend lebenswert modernisiert. 
Daniel ist dann aber so schnell verschwunden wie er auch aufgetaucht war.

In der Stadt gab es mal drei Kirchen. Eine davon will ich auf jeden Fall besuchen. Daniel hat mir die grobe Richtung gezeigt und gemeint, sie sei nicht ganz leicht zu finden. Fragen danach hilft dann tatsächlich nicht viel weiter. Keiner kennt hier eine Kirche. Mit viel Geduld finde ich sie aber doch. Von außen ist sie aber auch mit größter Phantasie nicht als Kirche zu erkennen: Um sie herum wurde nämlich in ein Kino, ein Pornokino, gebaut. An der Kasse nach der Kirche nachfragend, werde ich darauf hingewiesen, dass ich sie mir gerne in der Pause anschauen könne. Das tue ich dann auch. Leider ist es in der Pause im Saal auch stockdunkel. Man kann erkennen, dass es mal eine Kirche war und der Altar sich hinter dem Vorhang verbirgt. Mehr ist aber nicht drin. Die männlichen Zuschauer, die sich im Warteraum eine Pause gönnen, schauen mich komisch an und kichern. Sicher bin ich hier kein durchschnittlicher Kinogänger. Schon seltsam, eine Kirche in ein Sexkino zu verwandeln. Aber vielleicht ist das den Holland-Freunden unter euch nicht neu. Dort wird doch alle Nase lang eine Kirche verkauft, oder?

 

Moschee Eskipehir
Moschee Eskişehir
Das alte Eskipehir
Das alte Eskişehir
Übers Pornokino in die Kirche
Übers Pornokino in die Kirche
 

 

Schließlich verbringe ich noch längere Zeit damit, einige Berichte zu schreiben. Außerdem treffe ich noch eine Gruppe von Deutsch-Türken (Köln-Porz) kurz vor der geplanten Rückfahrt. Als ich dann auch meine Nahrungsreserven wieder aufgefüllt habe, ist kurz vor 18 Uhr. Jetzt noch raus aus der Stadt, am Freitagabend? Nein, ich suche mir doch noch eine Bleibe! Die Stadt lässt mich einfach nicht los.

Also gehe ich zur älteren, der Anadolu-Universität. Dort wird es sicher was geben. Dem ist aber nicht so. Aber: Kino, die Zweite. Hier findet gerade das 9. Internationale Filmfestival statt (eskfilmfest.anadolu.edu.tr). Anstatt noch blöd weiterzusuchen, verlasse ich mich lieber auf mein Glück und gehe in den Film “Paris seni seviyorum” (www.parisjetaime-film.de). Zwar verstehe ich lange nicht alles (Original mit Untertitel), es entspannt aber doch. Zudem die Erkenntnis bei der Fahrradlagerung: Nicht fragen, einfach machen. Problemlos kann man ein voll bepacktes Rad mit ins Kino nehmen! 

Nach der Filmvorstellung gehe ich in die Stadt zurück und folge dem Tipp, nach dem Cafe “Varuna Gezgin” (www.varunacafe.com) zu suchen. Dort war ich gestern schon, habe den Weg aber nicht mehr im Kopf. Das geht den meisten Leuten auf der Strasse aber auch so: Eine Frage nach dem Weg mit klarer Ortsangabe ergibt den Hinweis in drei verschiedene Richtungen. Schließlich mache ich das, was in solchen Situationen immer am Besten geholfen hat: Leute fragen, die auf der Strasse Bier trinken. Die wissen meistens Bescheid. Dem ist auch so. Ein junges Pärchen bringt mich zum Cafe. Übrigens: Bier trinken auf der Strasse ist in dieser Stadt verboten – im Gegensatz zu allen anderen türkischen Städten, in denen ich bisher war.
 Im Cafe treffe ich auch auf Murat, den Chef des Cafes. Als welterfahrener Backpacker lädt er mich zu sich nach Hause ein. Auch hier treffe ich wieder ein paar türkische Radfahrer (www.akinbike.com). Nach einer Dusche bei Murat geht es zusammen ins Nachtleben: 

Eskişehir rockt ! Abends ausgehen ist wie daheim. Durch die Unis lebt hier eine bunte Mischung aus sehr vielen jungen Menschen, die Motivation und Lebendigkeit ausstrahlen. Wenn man hier ausgeht, kommt man sich eigentlich wie in jeder anderen Disko, Kneipe oder Bar vor: Junge Leute haben ihren Spaß, hören die gleiche Musik wie auch sonstwo in Deutschland. Auch die Frisuren gleichen hier denen von daheim bekannten: Schwarz, braun, blond (natürlich oder gefärbt), rot, Halbglatze, hochgesteckt, Pferdeschwanz, literweise Gel,… Nur die dem Klischee von Türken entsprechenden Oberlippenbärte habe ich den ganzen Abend gesucht, aber nicht gefunden. Auch Kopftücher sind praktisch nicht zu sehen.
Inzwischen gibt es hier auch ausländische Gast-/ Austauschstudenten aus Europa. Anfangs waren die meisten natürlich abgeschreckt: Studieren in Anatolien, mitten in der Türkei? Nie im Leben! Die Zahl der ausländıschen Studenten nimmt aber zu: Inzwischen sind es wohl an die 200, die Zahl steigt jährlich, da die wieder Heimkehrenden natürlich gut Werbung für die Stadt machen.
Nach dem Gang durch zwei Diskos mit Livebands geht es wieder heim zu Murat. Es folgt noch ein Gespräch über den aufkommenden Nationalismus (Frankreich, Türkei,…), Extremismus in vielen Regionen und natürlich über Sprachen und Kultur.

 

An der Anadolu Universität
An der Anadolu Universität
Filmfestival
Filmfestival
Eingang Anadolu Universität
Eingang Anadolu Universität
Club I
Club I
Club II
Club II
Ein Blick aus der Küche
Ein Blick aus der Küche
   
Diese Seite wurde zuletzt aktualisiert am 15 Feb 2016 06:51:53

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