Tag 084 - Flucht vor aggressiven Kids Nr. 1-4/ Diebstahl Nr. 3: Tacho

FR, 19.06.2015 – Flucht vor aggressiven Kids Nr. 1-4/ Diebstahl Nr. 3: Tacho

Muradiye – Iğdır

 

Wasserfall und Vulkangestein

Bei der Weiterfahrt merke ich, dass ich gestern Abend genau am richtigen Ort angehalten habe und in der Dunkelheit auf keinen Fall hätte weiterfahren sollen. Denn nach nicht mal 3 Kilometern kommt links die kurze Zufahrt zum sehenswerten Muradiye-Wasserfall, die ich in der Dunkelheit sicher übersehen hätte. Bei der Weiterfahrt geht es insgesamt etwa 940 Meter höher, was sich aber lange hinzieht, also angenehm zu fahren ist. Die Landschaft ist mal wieder bildschön und überragend, heute gibt es kilometerlang Vulkangestein, das wie ein Streuselkuchen aussieht.

Dafür nerven heute die Kinder wieder ziemlich, da sie immer nach Geld fragen. Woher haben die das bitteschön? Von den älteren Geschwistern, den Eltern, der Schule, den Medien? Wie kommen die darauf, dass ich als Tourist, als den sie mich natürlich gleich erkennen, ihnen Geld geben werde? Haben da vielleicht andere Touristen vor mir ein schlechtes Beispiel gegeben? Sobald mich Kinder hier sehen, rufen sie den anderen zu, dass hier ein Tourist unterwegs ist und rennen auf mich zu. Da macht die ganze Fahrt viel weniger Spaß, da ich somit oft auf der Flucht bin. Umso schlimmer ist es, zu vermuten, dass sie vielleicht die nächsten Kinder auf der Strecke schon mit dem Handy informiert haben.

Die Abfahrt ist für die ersten Kilometer keine Freude: der Straßenbelag ist heute auf ganzer Breite geschmolzen und es ist oft schwer, einen nicht betroffenen Abschnitt zu finden und nicht auszurutschen. Vor allem muss ich deswegen die Geschwindigkeit arg drosseln, also permanent bremsen. Ein Mal hat es mich auf dem glitschigen Untergrund ja schon mal hingelegt und das sogar auf der Ebene ohne Bremsen. Als erfreulichen Ausgleich habe ich ab hier einen Ausblick auf den Ararat, um den ich eine Rundfahrt machen will. Der Gipfel ist meistens von Wolken umhüllt. Und zwischendrin bin ich keine 5 Kilometer vom Iran entfernt, einen Grenzübergang gibt es hier aber nicht.

 

 

Ishak-Pascha-Palast/ Flucht vor aggressiven Kids Nr. 1

In Doğubeyazıt, dem wichtigsten Durchgangsort für Reisende in den Iran, fallen mir wieder sofort die jungen Menschen auf: ein jugendlicher Mann begrüßt mich freundlich mit „Hello, welcome to Turkey!“. Drei andere meinen kurz darauf „Hello, fuck you!“. Das ist mal eine ganz neue Erfahrung, es wird in den nächsten Tagen aber nicht die letzte sein. Neben dem Ishak-Pascha-Palast scheint die Stadt nichts Sehenswertes zu haben. Für mich ist sie allein schon dadurch, dass die Straßen hier wie in Afşin abgesprüht werden und mein Rad so gleich wieder verschlammt wird, gestorben. Beim ersten Blick auf den Palast wird mir klar, dass ich die knapp 600 Meter sicher nicht hochfahren, sondern ein Taxi nehmen werde. Ich bin bisher schon genug Berge hinaufgefahren und dieser befindet sich zudem abseits von meiner eigentlichen Route. Schließlich nimmt der Taxifahrer mich mitsamt dem Rad mit bergauf. Im Palast gibt es endlich, was ich heute bei der gesamten Bergfahrt vermisst habe: eine Wasserquelle. Nach der Besichtigung komme ich kurz ins Gespräch mit einer französischen Reisegruppe (alle über 55). Wie immer kommt die Frage, ob ich mich bei einer solchen Tour nicht fürchte, vor allem, weil ich allein reise. Inzwischen habe ich dafür auch eine bejahende Antwort: ja, ich fürchte mich vor den aufdringlichen, bettelnden und aggressiven Kindern und Jugendlichen, spätestens seit der Weiterfahrt nach dem Berg Nemrut.

 

 

Treffen mit Luca Nr. 1 / Flucht vor aggressiven Kids Nr. 2-4

Bei der Fahrt raus aus der Stadt treffe ich den ersten Tourenradler meiner Reise – Luca (ca. 25) aus Zürich. Er ist seit Dezember unterwegs und will ebenfalls in den Iran. Allerdings nimmt er einen anderen Weg als ich und kommt gerade von dort, wo ich hinwill, von Iğdır. Zusammen setzen wir uns hin und tauschen uns aus. Sein Visum hat er in Trabzon nach etwa zwei Wochen Wartezeit erhalten. Er hat bisher nur gute Erfahrungen gemacht in der Türkei. Bis auf heute. Da sind ihm jugendliche Hirtenbuben aggressiv begegnet, haben ihn mit Steinen und Stöcken beworfen. Ich berichte ihm, dass es mir schon seit über einer Woche so geht, wenn auch nur verbal und nicht permanent. Kaum sind wir bei diesem Thema, kommen von der anderen Straßenseite vier Jugendliche und Kinder, die Geld wollen. Ich sage gleich, dass sie verschwinden sollen. Einer der vier zieht darauf sein Messer, wovon wir uns aber nicht beeindrucken lassen. Ein Auto hält an, der Fahrer wohnt direkt neben unserem Pausenplatz. Er kommt mit seiner Familie hinzu und ich mache ihm klar, was vorgegangen ist. Wenn natürlich auch nur symbolisch, Englisch spricht er nicht. Die Lage beruhigt sich und die Jugendlichen sind gerne für ein Foto bereit. Als der Familienvater sich zum Haus begibt, fangen sie aber wieder an. So beschließe ich mit Luca spontan, unser kurzes Treffen schnell zu beenden und in entgegengesetzte Richtung weiterzufahren, bevor es vielleicht noch Ärger gibt.

Ich habe gut 40 Kilometer bis Iğdır vor mir. Es war optimal, Luca zu treffen. Nicht nur wegen unserer Unterhaltung, sondern auch wegen der Warnung vor den Jugendlichen. Denn mir passiert genau das gleiche, keine zehn Minuten nach der Weitefahrt. Zwei Hirtenjungen bewerfen mich mit Steinen, wobei sie mich nur wenig verfehlen. Ich denke, dass ich ab jetzt in Ruhe weiterfahren kann. Doch da ist noch eine weitere Schafherde und die beiden Jungs erblicken mich schon von Weitem. Sehr schnell rennen sie schräg zu meiner Fahrtrichtung auf die Straße zu. Ich trete so kräftig in die Pedale wie möglich, die Jungs geben sich aber genau so Mühe. An dem einen fahre ich schnell genug vorbei, er ist noch zu weit im Feld. Mit dem anderen erreiche ich aber fast zeitgleich die Straße. Er wirft seinen gut einen Meter langen Stock nach mir, der nur kurz hinter meinem Rad landet. Hätte ich auf dieser recht ebenen Strecke nicht Rückenwind – ich fahre mit etwa 33 km/h – würde es wohl nicht so gut aussehen für mich. Bei diesen beiden Vorfällen gibt es übrigens keinen Wortwechsel oder sonstigen Kontakt. Die Jugendlichen (zw. 10 und 14) haben mich gesehen und sind sofort auf mich losgerannt, um mich zu bewerfen. Mit dieser erschreckenden Erfahrung – manche mögen es auch Abenteuer nennen – fahre ich sehr schnell und gestresst weiter. Allerdings immer mit der Angst vor den nächsten Häusern, Ortschaften oder Schafherden, bei denen sich Kinder oder Jugendliche aufhalten könnten. Es passiert nichts mehr, aber die Angst bleibt. So versuche ich, einen Bus anzuhalten – der erste hält auch an, nimmt mich mit. Ibrahim und Erdal machen mir klar, dass ich nicht bezahlen muss. Erst hier fühle ich mich sicher. Gut für meine Unversehrtheit, aber schlecht für die 30 Kilometer lange Strecke. Denn bei der wäre ich, nachdem ich den nächsten kleinen Berg umfahren hätte, nur noch bergab gefahren – bei gut befahrbarem Asphalt und sehr schöner Landschaft.

 

 

 

Ankunft unter Stress

In Iğdır angekommen, werde ich vor einem Hotel ausgeladen, in dem ich für einen guten Preis – welcher mir im Moment eigentlich ziemlich egal ist – unterkomme. Auf dem Zimmer mache ich es nicht wie bei jedem bisherigen Aufenthalt, nämlich zuerst Alltagskleider rausholen, Sachen für morgen richten, die Taschen neu packen und duschen. Nein, ich trinke erst mal zwei Bier und rauche eine Zigarette. Ich traue mich auch nicht mehr, rauszugehen. Ich habe genug für heute.

 

Dass ich die alte armenische Hauptstadt Ani, die inzwischen in der Türkei direkt an der Grenze zu Armenien liegt, nicht besuchen werde, ist klar. Die Zeit fehlt mir eindeutig. Dafür bin ich gut in der Zeit, um morgen, dem letztmöglichen Tag, an die Grenze zu Aserbaidschan zu kommen.

 

 

Video

Heute die Musik eines großen Wasserfalls (Muradiye selalesi):

 

Diese Seite wurde zuletzt aktualisiert am 07 Sep 2016 19:40:57

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